Das Ziel des Schreibens ist es, andere 
hören, sehen und fühlen zu machen.
nach Joseph Conrad, Lord Jim

Was führt zur Beschäftigung mit deutsch-jüdischer Geschichte? Während der Forschungen zu meiner Dissertation wurde ich auf die jüdische Familie Gotthelft aufmerksam, die in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende in Kassel eine großes Druckerei betrieb und eine regional bedeutende Tageszeitung herausgab, das Kasseler Tageblatt und Anzeiger. Die Brüder Wilhelm, Theodor, Albert und ihr Cousin Richard führten das Unternehmen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu seiner Blüte. Verwandtschaftliche Beziehungen verbanden die Familie mit jüdischen Persönlichkeiten der deutschen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Zu ihnen gehörten unter anderen: Bertha Markheim (1833-1919, Vertraute von Karl und Jenny Marx), Julius Rodenberg (1831-1914, Journalist und Schriftsteller), Alfred Apfel (1882-1941, Strafverteidiger und Vorstandsmitglied des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens), Ottilie Schoenewald (1883-1961, Politikerin und Frauenrechtlerin), Irene Eisinger (1903-1994, Sopranistin), Otto Loewi (1873-1961, Pharmakologe und Nobelpreisträger) und Franz Rosenzweig (1886-1929, Historiker und Philosoph).
Familienmitglieder der Gotthelfts lebten und arbeiteten nicht nur in Kassel, sondern auch in Königsberg, Bad Nauheim, Berlin, Karlsruhe, Mannheim, Hamburg, Köln, Dresden und in der thüringischen Provinz. Hier wie dort ist die einst so angesehene Familie in Vergessenheit geraten, ebenso manche der eingangs genannten Persönlichkeiten. Der Grund hierfür ist der Erinnerungsbruch, zu dem es seit 1933 in Deutschland durch die Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Mitbürger kam. Zwar gelang dem deutschen Faschismus der Völkermord an den Juden Europas nicht vollständig, jedoch führte er in Deutschland dazu, dass im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit die reiche und viele Jahrhunderte umfassende deutsch-jüdische Geschichte nicht mehr präsent, statt dessen die Begriffe Jude und Judentum fast ausschließlich mit dem Zeitraum von 1933 bis 1945 und der Schoah konnotiert sind. Den meisten Deutschen ist nicht gewärtig, dass deutsch-jüdische Geschichte sehr viel mehr ist und nicht auf zwölf Jahre verengt werden darf.
Das so gründlich Vergessene und oft auch Verdrängte bildet sich an den Gotthelfts ab. Ihre Geschichte reicht bis ins Zeitalter des Absolutismus zurück, als Mitglieder der Familie von hessischen Fürsten Schutzbriefe erhielten und als Hoffaktoren tätig waren, führt über die Selbst-Emanzipation und rechtliche Gleichstellung im 19. Jahrhundert, in dem die Familie den Grundstein ihres wirtschaftlichen Erfolges legte, hin zur vollständigen Integration, auf die nach 1933 Vertreibung oder Ermordung folgte. Zum Vergessenen gehört auch die Tatsache, dass jüdische Deutsche aller Gesellschaftsschichten als arbeitsame Bürger in Handwerk, Landwirtschaft, Gewerbe, Bildung, Industrie bis 1933 zum Aufstieg Deutschlands beitrugen und ihre hervorragendendsten Köpfe zur Kunst-, Geistes-, Medizin-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wichtige Beiträge erbrachten, die ihrer Heimat im Wettbewerb der Nationen zu einem vorderen Platz verhalfen. Auch hierfür finden sich Beispiele unter den Gotthelfts und ihren Verwandten.
So wie der größte Teil deutsch-jüdischer Geschichte in der Erinnerung der Deutschen ausgelöscht wurde, so verhält es sich auch mit dem, was gläubige jüdische Deutsche von ihren christlichen Mitbürgern unterschied: Ihre Religion und den mit ihr verbundenen Traditionen und Lebensweisen, die vielen nichtjüdischen Deutschen zumindest im Groben bekannt waren, sei es durch lose nachbarschaftliche Hausgemeinschaft, sei es durch engen freundschaftlichen Verkehr. An der Familiengeschichte der Gotthelfts zeigt sich zum einen das Festhalten an traditionellen Inhalten und Formen jüdischen Glaubens mit seinen Gottesdiensten, seinen Fest- und Feiertagen, seinen strengen Ess- und Trinkgeboten, zum anderen die Hinwendung zu religiösen Reformbewegungen bzw. die gänzliche Abkehr von der Religion der Vorfahren.

Der Sabbat und die Feiertage werden rituell mit einem Segen, dem Kiddusch, eingeleitet, den das Familienoberhaupt über einem Becher Wein spricht.  Der religiöse Brauch hat seine Wurzeln im Alten Testament, dort im 2. Buch Mose 20,8:
"Gedenke des Sabbattages, dass Du ihn heiligst".
Der abgebildete Kiddusch-Becher stammt aus der Sammlung von Max Raphael Hahn (1880-1942), dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Göttingen, und trägt als Schmuck Darstellungen der alttestamentarischen Geschichte um Jakobs Traum. Der Becher wurde 1939 von den Nazis geraubt und 2018 an Nachkommen der Familie restituiert.
(Bildquelle: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg )

Beispielhaft sind die Gotthelfts auch für den brutalen Bruch, den die Machtübernahme der Nationalsozialisten für jüdische Deutsche bedeutete, ebenso für die unterschiedlichen Reaktionen, mit dem sie ihm begegneten: hier das Ausharren in Deutschland, entweder in tiefer, im Freitod endender Verzweiflung oder in mutiger Entschlossenheit, das durch Repressalien ständig schwieriger werdende Leben zu meistern, an dessen Ende die Deportation und der Tod in der Gaskammer standen; dort die Emigration mit einem mehr oder weniger erfolgreichen Neuanfang in einer fremden Gesellschaft, oft unter schwierigsten Bedingungen, und schließlich die späte Rückkehr in das Land, das sie vor Jahrzehnten vertrieben hatte und ihnen trotzdem Heimat geblieben war – freilich eine, mit der sie in oft langwierigen und zähen juristischen Verfahren um Entschädigung für das erfahrene Unrecht kämpfen mussten.

Am 16.2.1882 heiratete Simon, der zweitälteste Sohn des Firmengründers Carl Gotthelft, die Berliner Kaufmannstochter Getrud Franke. Der Standesbeamte hielt auf den behördlichen Formularen fest, dass beide "mosaischen" , also jüdischen Glaubens, seien.

Für Simon, der bereits 1895 verstarb, wäre es am Tag der Eheschließung wohl unvorstellbar gewesen, dass dieselben Formulare Jahrzehnte später dazu dienen würden, seiner Witwe einen weiteren Vornamen zuzuschreiben:

Die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen trat zum 1. Januar 1939 mit dem Ziel in Kraft, jüdische Deutsche durch ihre Vornamen identifizierbar zu machen. Trugen sie nicht bereits einen jüdischen Vornamen, der – so die Verordnung - "im deutschen Volk als typisch angesehen“ wurde, hatten sie zusätzlich den Vornamen Israel oder Sara annehmen und ihn m Rechts- und Geschäftsverkehr anzugeben. Wer dies  unterließ, wurde mit Gefängnishaft bestraft. Die Verordnung war „der erste Versuch"  des Nazisregimes "einer allgemeinen, äußerlichen Kennzeichnung der Juden" (Uwe Diedrich Adam)

Seitenkopf der standesamtlichen Urkunde vom 16.2.1882
(Heiratsregister der Berliner Standesämter 1874-1920, Digital Images, Landesarchiv Berlin.)

An der Enkelgeneration der Familie Gotthelft vergegenwärtig sich, dass auch in Zufluchtsländern, die als sicher gegolten hatten, im Gefolge des Krieges die Verfolgung einsetzte und zu einem gefahrvollen Leben im Untergrund zwang. Darüber hinaus steht die Enkelgeneration für die fruchtbaren Impulse, die emigrierte jüdische Deutsche ihrem Zufluchtsland gaben, mochte dieses nun England, Italien, Südafrika oder Palästina heißen. Gleichzeitig lässt sich an den Lebensleistungen dieser Gotthelftschen Nachkommen das schöpferische Potential ermessen, das Deutschland durch die Vertreibung seiner jüdischen Mitbürger verloren ging.
Die kurze Zusammenfassung deutet an, was diese Seiten leisten werden: eine Darstellung wesentlicher Aspekte deutsch-jüdischer Geschichte, der Vielfalt jüdischer Kultur und jüdischen Lebens in Deutschland über einen Zeitraum von drei Jahrhunderten. Die Sachverhalte werden erzählend vermittelt, d.h. die Arbeit richtet sich auf eine breite, nicht akademisch gebildete Leserschaft, der eine lebensvolle, Herz und Verstand gleichermaßen berührende Darstellung Inhalte nahebringt, zu denen sie ansonsten den Weg kaum finden würde. Für den erzählerisch-biographischen Ansatz habe ich mich noch aus einem weiteren Grund entschieden: Die nüchtern-wissenschaftliche Darstellung, sei sie auch noch so fundiert und detailliert, ist wenig dazu geeignet, sich den menschlichen Dimensionen des von ihr untersuchten Gegenstandes anzunähern und sie dem Leser zu vermitteln. Die Zahl der gegen jüdische Deutsche verhängten Berufsverbote, die Nennung der Konsequenz für die Betroffenen und die Einordnung der Maßnahme in die antisemitische Politik des braunen Regimes, macht die tiefen psychischen Verletzungen und die oft existenzielle Not nicht erfahr- und begreifbar, die sie bei jüdischen Deutschen auslöste. Das Leid bleibt abstrakt, es kann nicht ermessen werden – und gerade darauf kommt es an, will man die Auswirkungen der antisemitischen Maßnahmen auf die Betroffenen zumindest ansatzweise erfassen.
Hier ist eine erzählende Geschichtsschreibung im Vorteil, die die Verletzungen, Verwüstungen und Zerstörungen anschaulich macht, die jüdischen Deutschen ab 1933 z. B. durch die Ausgrenzung in Form von Berufsverboten und Beschneidungen ihrer bürgerlichen Rechte zugefügt wurden, ebenso durch das Zurückbleiben in Einsamkeit, während sich nahe und nächste Anverwandte (Söhne, Töchter, Enkel) ins Exil begaben. Gleiches gilt für die Zeit im Exil und den Erfahrungen, mit denen dort viele Geflohenen zu kämpfen hatten: das Beiseite-Stehen in einer fremden Gesellschaft, die ihnen ablehnend begegnete, die Enttäuschung und Depression aufgrund des erzwungenen und oft erfolglosen beruflichen Neubeginns. Aus diesen Gründen habe ich mich für den biographisch-erzählenden Ansatz entschieden. Mit ihm lassen sich auch die Mut und die Tatkraft sehr viel eindringlicher darstellen, die jüdische Deutsche sowohl in der Heimat bewiesen, unter dem Verfolgungsdruck des Regimes, als auch in der Fremde, wo sie sich eine neue Existenz unter schwierigsten Bedingungen aufzubauen hatten. Die abgegriffene und gedankenlose Redewendung von den Opfern des Regimes behaftet jüdische Deutsche oft zu Unrecht mit dem Odium einer angeblichen Passivität, aus der heraus sie sich willen- und widerstandslos den Diskriminierungen gefügt hätten. Sie verstellt die Sicht auf die facettenreichen Akte der Selbstbehauptung, die sie trotz des erlittenen Leids - in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen - unter Beweis stellten: Dazu gehören die Tagebücher, die jüdische Deutsche unter Gefahr für Leib und Leben führten, um ihre Situation im NS-Staat für die Nachwelt zu dokumentieren, ebenso wie die schwierige Vorbereitung der Auswanderung, z. B. durch Umschulung auf Berufe, für die in den Exilländern Bedarf bestand. Als ein Akt der Selbstbehauptung und des Widerstandes darf auch das zweisprachige medizinische Wörterbuch gelten, das ein hochbetagter Verwandter der Gotthelfts im englischen Exil noch verfasste, in der Hoffnung, es werde nach dem Friedensschluss den Feinden von gestern zur Verständigung dienen.
Die Darstellung beruht auf den Gesprächen, die ich mit Nachkommen und engen Freunden der Familie Gotthelft in Italien, England, Deutschland und der Schweiz noch führen durfte, ebenso auf der Auswertung schriftlicher Quellen sowie auf fiktionalen Elementen, die ich dort eingefüge, wo nicht genügend Material vorhanden ist, um das vollständige Bild einer Person zu zeichnen oder ihre historische Situation deutlich genug zu beschreiben.  Kurz vor dem Ende ihrer Herrschaft vernichteten die Nationalsozialisten in großem Umfang Material, dass ihre Verbrechen dokumentierte und nach der Niederlage als Beweis gegen sie hätte verwendet werden können. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wurden auch die Vernehmungsprotokolle der in Auschwitz ermordeten Julie Gotthelft verbrannt und so neben den Taten und Namen der Verfolger die Geschichte ihrer Verhaftung, Vernehmung und Deportation ausgelöscht, damit also ein Teil ihres Lebens. Würde er unberichet oder unerzählt bleiben, wäre das ein später Triumpf des Unrechts über das Recht, der Barbarbei über die Zivilsation, der Peiniger über die Misshandelten. Deshalb rekonstuktiere ich eine Vergangenheit, wie sie sich im Mai und Juni 1944 auf dem Erfurter Peterberg und der nur wenige Kilomieter entfernten Hindenburgstraße, wo die Gestapo ihre Dienststellen hatten, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ereignete. Es versteht sich von selbst, dass ich die fiktionalen Elemente nicht aus dem luftleeren Rausch schöpfe, sondern aus Berichten von Personen, die sich im Raum Erfurt in einer ähnlichen Situation wie Julie befanden, aus demselben Grund verhaftet und von den gleichen Beamten verhört und misshandelt wurden, jedoch das Naziregime überlebten und deshalb Zeugnis ablegen konnten: über die Täter, ihre Namen und ihr Verhalten bei den Vernehmungen. Im Falle von Bertha Gotthelft verfahre ich ähnlich: Ein sachkundiger Leser wird unschwer erkennen, dass meine Schilderungen von Berthas Diskriminierungen, denen sie als Jüdin im Berlin der frühen 40er Jahre vor ihrer Deportation und Ermordung ausgesetzt war, sich eng an den Aufzeichnungen von Edith Marcuse (1897-1945) orientieren. Die Schwester des Schriftstellers und Philosophen Ludwig Marcuse (1894-1971) hielt in ihren Tagebüchern eindringlich den Alltag der Berliner Juden unter dem antisemitischen Verfolgungsdruck des Regimes fest. Selbstverständlich ist die Arbeit in der Faktenaufbereitung und Quellenauswertung wissenschaftlich exakt.

September 2017:
Sichtung von Mikrofilmkopien des Kasseler Tageblatts und Digitalisierung wichtiger Inhalte.
Januar 2018:
Recherche im Wirtschaftsarchiv des Landes Baden-Württemberg
April 2019:
Recherche im Staatsarchiv Gotha.

Zum Schluss noch ein Wort zum Aufbau der Internetseite: Der Navigationsbereich (weiße Fläche) enthält Kapitelüberschriften in kursiver und nicht kursiver Type. Die nicht kursiv gesetzten Überschriften führen zu Kapiteln (schwarze Fläche), die darüber Auskunft geben, welche Inhalte in naher Zukunft auf der Seite erzählerisch dargestellt werden sollen, sie informieren also darüber, was erzählt wird. Die kursiv gesetzten Überschriften indes führen zu jenen Kapiteln, deren Inhalte bereits in ihre (fast) endgültige erzählerische Form überführt wurden. An ihnen ist also zu ersehen, wie erzählt wird. Noch leere Kapitel werden zeitnah mit Inhalten gefüllt.

September 2017:
Sichtung von Mikrofilmkopien des Kasseler Tageblatts und Digitalisierung wichtiger Inhalte.
Am 16.2.1882 heiratete Simon, der zweitälteste Sohn des Firmengründers Carl Gotthelft, die Berliner Kaufmannstochter Getrud Franke. Der Standesbeamte hielt auf den behördlichen Formularen fest, dass beide "mosaischen", also jüdischen Glaubens, seien.

Für Simon, der bereits 1895 verstarb, wäre es am Tag der Eheschließung wohl unvorstellbar gewesen, dass dieselben Formulare Jahrzehnte später dazu dienen würden, seiner Witwe einen weiteren Vornamen zuzuschreiben:

Die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen trat zum 1. Januar 1939 mit dem Ziel in Kraft, jüdische Deutsche durch ihre Vornamen identifizierbar zu machen. Trugen sie nicht bereits einen jüdischen Vornamen, der – so die Verordnung - "im deutschen Volk als typisch angesehen“ wurde, hatten sie zusätzlich den Vornamen Israel oder Sara annehmen und ihn m Rechts- und Geschäftsverkehr anzugeben. Wer dies unterließ, wurde mit Gefängnishaft bestraft. Die Verordnung war „der erste Versuch" des Nazisregimes "einer allgemeinen, äußerlichen Kennzeichnung der Juden" (Uwe Diedrich Adam).

Rechts der vollständige Eintrag auf dem Dokument, unten dessen Seitenkopf.
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