Wer großer Herren Gunst misbraucht mit bösem Rath/ Wie dieser freche Jud Süeß Oppenheimer that/ Wen Geitz und Übermuth auch Wollust eingenommen/ Der mus wie Haman dort zu letzt an Galgen kommen.
Antijüdisches Flugblatt zur Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer am 4.2.1738
Die Anfänge der Familie Gotthelfts reichen Jahrhunderte zurück. Der erste urkundlich belegte Vorfahre der Familie ist der um 1670 geborene Isaac Itzig Moses. Ihm wurde am 16.1.1698 von der Kanzlei des Friedrich Adolf Grafen zur Lippe-Detmold ein Schutzbrief ausgestellt. Einen solchen besaß auch sein Sohn Salomon Itzig. Das Dokument, datiert auf den 22.11.1736, nennt als Schutzherrin Johanna Wilhelmine Fürstin zur Lippe, die die Grafschaft nach dem Tode ihres Gatten in Vormundschaft für den noch nicht erwachsenen Thronfolger regierte. Beide Vorfahren der Familie Gotthelft, Isaac und Salomon, besaßen also den Status von Schutzjuden. Hier noch Daten zur Zahl jüdischer Gemeinden und Familien in und um Kassel (Sichel).
Die ersten Zeugnisse zur Familie Gotthelft sprechen davon, dass Juden in Deutschland noch im Zeitalter der Aufklärung unter jahrhundertealten Vorurteilen zu leiden hatten, die das Fundament sowohl alltäglichen
Diskriminierungen als auch der seltener gewordenen kollektiven Ausschreitungen bildeten. Eine solche... Am Bamberger Pogrom, das ein gutes Jahr, nachdem Isaac seinen Schutzbrief erhalten hatte, begann und mehrere Wochen andauerte, zeigt sich beispielhaft, wie die in allen Schichten verbreiteten Vorurteilen zu kollektiven Übergriffen gegen Leib und Eigentum von Juden führten.
Zu den alltäglichen
Diskriminierungen gehörten handgreifliche und verbalen Demütigungen gegen einzelne Juden ebenso wie systematische Schikanen und Zurücksetzungen durch Gesetze der Obrigkeit. Auch sie verdeutlichten den Juden in Deutschland ihr Position als gesellschaftliche Außenseiter. Durch einen Ring, Kreis oder einfachen Flecken aus gelbem Stoff, den sie auf ihrer Kleidung sichtbar zu tragen hatten, ließen jüdische Deutsche sich im Alltag von jedem als Angehörige einer verachteten Randgruppe identifizieren. Der Leibzoll, den sie beim Überqueren einer Territorialgrenze am Schlagbaum zu entrichten hatten, war nur eine jener zahlreichen Abgaben, die eine christliche Obrigkeit ausschließlich von jüdischen Deutschen einforderte. Diese empfanden den Leibzoll
als besonders schmachvoll, da die Begrifflichkeit auch eine Abgabe bezeichnete, die auf zollpflichtiges Vieh beim Transport über eine Landesgrenze zu entrichten war. Neben weiteren Abgaben, die in Form von Steuern erhoben wurden, erschwerten empfindliche Be- und Einschränkungen u. a. bei der Wahl des Berufs und des Wohnorts das Leben jüdischer Deutscher. Die Urteile der Justiz fielen oft strenger aus als die gegen Christen, die Grausamkeit der Hinrichtungen wurde gesteigert, z. B. indem der Delinquent an den Füßen, also mit dem Kopf nach unten, erhängt wurde, was ein qualvolles, sich oft über Tage hinziehendes Sterben bedeutete, an dem Volk sich belustigte. Die zwei lebenden Hunde, die links und rechts des Verurteilten aufgehängt wurden, beinhalteten dieselbe Aussage wie die doppelsinnige Verwendung des Begriffs Leibzoll: Dass Juden keine den Christen gleichwertigen Menschen seien und mit diesen weniger gemein hätten als mit Tieren.
Von gesetzlichen Be- und Einschränkungen befreiten Schutzbriefe, wie Isaac Itzig Moses und sein Sohn Salomon Itzig (geboren ca. 1700) sie besaßen: Schutzbriefe billigten ihren Inhabern Wohn- und Aufenthaltsrecht zu, sie erlaubten geschäftliche Betätigung in Bereichen, die jüdischen Deutschen qua Gesetz verboten waren. Darüber hinaus stellten die Briefe ihre Träger unter den Schutz des Landesherren und bewahrten sie so – oft, aber nicht immer – vor judenfeindlichen Beleidigungen, Tätlichkeiten oder Gewaltakten. Die Wirksamkeit mancher Briefe beschränkte sich auf den Inhaber, andere bezogen die Familienangehörigen und das Hausgesinde ein. Die Gültigkeitsdauer von Schutzbriefen konnte auf wenige Jahre befristet sein oder bis zum Tode ihres Inhabers reichen. Den Status eines Schutzjuden bewilligte der Landesherr nicht aus altruistischen Gründen: Der Schutzbrief musste mit einem Aufnahmegeld erkauft werden, an das sich oft jährliche Zahlungen anschlossen.
Doch nicht nur für diese geschichtliche Situation sind die Vorfahren der Gotthelfts Beispiel: Hertz Salomon (geboren um 1725), der Sohn von Salomon Itzig, war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Hoffaktor tätig, der den hessischen Fürsten Simon August Graf zur Lippe-Detmold mit Gebrauchs- sowie Luxusgütern versorgte und ihm Kapital zur Verfügung stellte. Dies geht aus der Urkunde hervor, mit der Hertz Salomon am 14.4.1775 zum Hoffaktor ernannt wurde,„in Betracht der von ihm bisher zu unserm gnädigsten Wohlgefallen so wohl für unsern Hoffstaat[…] besorgte und auch weiter übernommene Waaren Liefferung, und in Rücksicht auf das gethaene Versprechen, zu gedachtem Meinberg eine Boutique bauen zu lassen.“ Die Ernennung zum Hoffaktor war also Lohn für bereits erbrachte Leistungen und eine zukünftige Unternehmung in Meinberg, einem damals noch unbedeutenden Dorf, das der Graf zu einem Heilbad entwickeln wollte. An dem ambitionierten Projekt sollte Hertz Salomon sich auf eigenes Risiko beteiligen.
Ernennungurkunde für Hertz Salomon, Leo Baeck Institute New York, Fritz R. Katzenstein Family Collection
Dieser Gotthelftsche Vorfahre gehörte also zu jenen jüdischen Deutschen, die im 17. und 18. Jahrhundert Fürsten als Finanziers dienten und ihre bedeutendsten Vertreter in Samuel Oppenheimer (1630-1703), Leffmann Behrens (1634-1714), Samuel Wertheimer (1658-1724) und Behrend Lehmann (1661-1730) hatten. Im Gegenzug für ihre Verdienste erhielten sie den Titel Hoffaktor, mit dem fürstlicher Schutz und die Protektion ihres Gewerbes verbunden waren, dessen Erfolg auch dem Landesherrn zugutekam, den sie mit Waren und Kapital zu versorgen hatten. Die oft mehrere Jahrzehnte währende Zusammenarbeit führte jedoch selten dazu, dass der Landesherr seinen Hofjuden als Mensch anerkannte oder wertschätzte. Oft wurde ein Hoffaktor von seinem Dienstherren trotz der engen und langjährigen Zusammenarbeit nur als notwendiges Übel betrachtet, als verachtenswerter Jude, den er ebenso verabscheute wie dessen Glaubensbrüder. Die landläufigen Vorurteile, Ressentiments und Gehässigkeiten spiegeln sich im Testament eines hessischen Fürsten wider, der seinen Sohn dazu auffordert, „sich vor den Juden vorzusehen[n]. Denn sie sind ein müßig und unnützes Volk
[…]. Sie saugen die Christen aus, lästern, schänden und schmähen den Sohn Gottes
[...] aufs greulichste und verunehren Gott mit ihrem täglichen, abergläubischen Gebet.“
Im Umgang herrschten – nicht immer, aber oft – Herablassung, Willkür, auch Handgreiflichkeit, der Geschäftspartner war einfach „der Jude“. Mit dem Tode des Fürsten erloschen Schutz und Protektion, so dass auf manchem Hoffaktor sich die Wut und Feindseligkeiten entluden, die sich in der Hofgesellschaft und im Volk aufgestaut hatten, weil er als die Wurzel unliebsamer Maßnahmen angesehen wurde – und nicht der Landesherr, in dessen Diensten oder Auftrag er gehandelt hatte. Joseph Süß Oppenheimer (1698/99-1738), aufgrund der dichterischen Verarbeitung seines Schicksals durch Wilhelm Hauff und Lion Feuchtwanger der bekannteste Hoffaktor, wurde nach dem Tode seines fürstlichen Dienstherrn verhaftet und nach einem Scheinprozess hingerichtet. Die Exekution fand auf besonders perfide Weise statt, die Stimmung unter den fast 20.000 Zuschauern hätte auch auf einem Volksfest herrschen können. Für die Schaulustigen waren Tribünen angefertigt worden, aus Buden heraus verkauften Händler Bier, Wein und Schmähschriften auf den Verurteilten, dessen sterbliche Überreste für sechs Jahre in einem Käfig ausgestellt wurden, "den Raben zum Fraß", wie es in einem zeitgenössischen Bericht hieß.
Kupferstich von 1738: Wahre Abbildung Der an dem Iuden Ioseph Süß Oppenheimers, aus der Pfalz gebürthig, A. D. 1738. den 14. Febr:
Vorgenomenen Execution, wie solche zum Frolocken der gedruckten Unterthanen ausserhalb Stuttgart Vollzogen,
under an den eisernen Galgen, in einem 6 Schuh hohen eisernen Käffich aufgehenckt worden
Auf der Urkunde, die Hertz Salomon seine Ernennung zum Hoffaktor bestätigt, findet sich ein weiterer Eintrag, datiert auf den 15. März 1799. Er bestätigt seinem Sohn Abraham Hertz (1757-1824) den Status eines Schutzjuden und stellt ihm darüber hinaus einen hervorragenden Leumund aus: Zitat. Wie seine Vorfahren war Abraham als Hoflieferant und darüber hinaus in Geld- und Wechselgeschäften tätig.
Vier Generationen der Gotthelftschen Vorfahren hatten sich unter den Schutz hessischer Fürsten begeben, um die rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen diskremierungen und Benachteiligungen zu mildern, die sich aus ihrer ungleichstellung als Juden ergaben / weil sie ihren christlichen Mitbürgern rechtlich und gesellschatlich nicht gleichgestellt waren. Nun überleitung zu reform, und der Namenswahl. Als die jüdischen Einwohner des Königreichs Westphalen im Zuge der napoleonischen Reformen, mit denen ihre Gleichstellung begann, dazu aufgefordert wurden, neue Familiennamen anzunehmen, entschied Abraham, der Sohn des oben genannten Hoffaktors Hertz, für Gotthelf, ein frommer Name und Variante von Gotthilf, mit der Bedeutung "dem Gott hilft". Prüfen, Kunze. Verweist auf Religiosität des Trägers. In seinen Lebenserinnerungen erinnert sich RG daran, dass ein Vorfahr, ich glaube, es war der Sohn von Herz 1824, wahrhaft regligös war und alle Bräuche peinlichst eingahlten wurden. Laut Richard Gotthelft am 18. Mai 1808 hinzufügung. in der frühestern unten zu sehender Eintragung lautet richtig gotthelf, in Dokumenten, die nur ein paar Jahre später entstanden, war darauf Gotthelft geworden. Zu wem führt Gotthelft aus, dass die Religiösen Bräuche exakt eingehalten wurden?
Behördliche Aufstellung jüdischer Familienoberhäupter und ihrer Angehörigen aus dem Jahre 1812:
In der dritten Spalte ist die jüdische Namenform des Familienoberhaupts angegeben,
in der vierten Spalte der gewählte Nachname, aus dessen Hinzufügung sich die neue bürgerliche
Namenform ergab. Am Ende der Seite steht der Eintrag zu Abraham
(Hessisches Staatsarchiv Marburg).
Abraham und seine Ehefrau Szerchen (gestorben 1814) wurden auf dem jüdischen Friedhof im Kasseler Vorort Bettenhausen beigesetzt, der damals noch nicht eingemeindet war. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ließen Nachkommen die Gräber renovieren und Porzellanschilder anbringen. Sie bezeichnen Abraham, den Namensgeber der Familie, als Aeltestvater
der Gotthelfts, seine Ehefrau Szerchen als Aeltestmutter.
Links das Grab der Szerchen:
Hier ruht
eine tugendhafte Frau, gottesfürchtig war sie,
mied das Böse, vollbrachte viele gute Taten.
Ihre Hand reichte sie den Armen und Unglücklichen.
Mit der Redlichkeit ihres Herzens übte sie viel Nächstenliebe aus.
Sie hütete den Glauben und wahrte das Gesetz.
Gottesfürchtig dachte sie über die Gotteslehre nach und lernte sie.
Von den Früchten ihrer Hände bewirtete und unterstützte sie.
Sie war eine gute Hauswirtin, ihrem Mann eine Krone.
Sie schaute nach ihrer Vorratskammer [und] achtete auf das Gesetz.
Die geachtete und rechtschaffene Frau, Serchen, Tochter des Gerson seligen Andenkens
Ehefrau des Abraham Detmold. Gestorben
und begraben am Donnerstag, am 3. Nisan
5574 n.d.k.Z.
Deutsche Übersetzung der hebräischen Grabinschrift zitiert nach "Szerchen Gerson, Ehefrau des Abraham Herz Detmold, Ältestmutter der Familie Gotthelft (1814) – Kassel-Bettenhausen“, in: Jüdische Grabstätten <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/juf/id/6954> (Stand: 24.8.2018)/ Fotografie Chr. H. im April 2019
Rechts das Grab des Abraham:
Hier ruht
ein Mann, der das Gute wollte. Er wandelte in Geradheit.
Er übte Nächstenliebe aus und erbarmte sich der Armen und Unglücklichen.
Er war gottesfürchtig, liebte die Lehre und war bekannt in den Toren.
Aufrichtig und würdig seine Handlungen, gut seine Taten.
Das ist der geachtete Abraham, Sohn des
Naftali, genannt Herz Detmold
seligen Andenkens. Gestorben am Freitag, am 5. Kislev,
und begraben am Sonntg, am 7. desselben Monats
5585 n.d.k.Z.
Seine Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens.
Deutsche Übersetzung der hebräischen Grabinschrift zitiert nach „Abraham Herz Detmold, Ältervater der Familie Gotthelft (1827) – Kassel-Bettenhausen“, in: Jüdische Grabstätten <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/juf/id/6955> (Stand: 24.8.2018)
Die Gotthelfts im Kontext / Judentum in Kurhessen oder wie die Landschaft hieß
Die jüdische Minderheit in Staat und Gesellschaft:
Antijüdische Denkfiguren – Ausgrenzung und Diskriminierung durch Reglementierung – Hofjuden und Schutzjuden
Innerjüdisches Leben:
Gemeinde und Häuslichkeit
Erste Schritte auf dem Weg zu Selbst-Emanzipation und Gleichstellung:
Die Haskalah – Habsburgisches Toleranzedikt von 1781 – Napoleonische Reformen – Peußisches Judenedikt von 1814