Jede bedrückte Parthei, sobald
sie die Freiheit erlangt, schließt sich mit Eifer der bestehenden Ordnung an, die sie sich erkämpft, die ihr theuer, die ihr zum Lebensprinzip geworden.
Allgemeine Zeitschrift des Judenthums, 1. Jahrgang, Nr. 3, 6. Mai 1837.
Der Aufstieg der Brüder Carl (1817-1880) und Adolph (1828-1901), der Enkel von Abraham Hertz Gotthelft, vollzog sich vor dem Hintergrund eines langen und oft stockenden Liberalisierungsprozesses, der in den frühen 70er Jahren des 19. Jahrhunderts schließlich zur vollständigen rechtlichen Gleichstellung jüdischer Deutscher führte. Für die "qualifizierte handwerkliche Fachausbildung"
(Dietfried Krause-Vilmar) beider Brüder als Schriftsetzer
bildeten jene Reformen, die jüdischen Deutschen den Zugang zu handwerklichen Berufen erlaubten, die Voraussetzung.
1841 gründete Carl im väterlichen Haus in der Kasseler Mittelgasse, die damals noch Dionysienstraße hieß, eine kleine Druckerei. Das erste und für fast 15 Jahre einzige Inventar bestand aus einer hölzernen Handpresse, die zusammen mit einigen Schriftsätzen gebraucht erworben worden war. In dem Zwei-Mann-Betrieb übernahm Carl die Setzarbeiten, ein Gehilfe unterstützte ihn bei der Bedienung der Presse. In der ersten Zeit waren es vor allem Freunde, Bekannte und Verwandte, die mit Aufträgen und eifriger Mundpropaganda dem winzigen Betrieb zu Einnahmen verhalfen.
Das Haus Nr. 31 in der Mittelgasse im Jahre 1909. Die Druckerei war in zwei zur Straßenseite hin gelegenen Zimmern im Erdgeschoss untergebracht. Frieda Sichel, eine Enkelin von Carl, fertigte die Zeichnung für einen Stammbaum der Familie an (Leo Baeck Institute New York, Fritz R. Katzenstein Family Collection).
Ein Erzeugnis aus Carls Anfangszeit
ist dieHornisse, ein Blättchen von nur wenigen Seiten, deren Herstellungdemokratische Kräfte um Dr. Gottlieb Keller im Revolutionsjahr
1848 in Auftrag gaben. Die erste Ausgabe erschien im August. Ihr fortschrittlicher Inhalt erregte jedoch das Missfallen der kurfürstlichen Regierung, die der Druckerei vorübergehend die Konzession entzog und ihre Arbeitsräume durch Soldaten schließen ließ.Keller selbst wurde bis zu seiner spektakulären Flucht im Kastell an der Fuldabrücke inhaftiert.
In seinen 1922 im Selbstverlang erschienen und für den engeren Familienkreis bestimmten Erinnerungen aus guter alter Zeit
stellt Richard Gotthelft die Vorgänge um dieHornisseso dar, als habe sein Onkel Carl den Druckauftrag angenommen, um dem Betrieb, der auf schwachen finanziellen Füßen stand und öfters von der Schließung bedroht war, eine Einnahmequelle zu erschließen. Vor dem Hintergrund jedoch, dass Carls jüngerer Bruder und brieflicher Ratgeber Adolph in Berlin 1848 "als freiheitlicher Kämpfer auf den Barrikaden stand" -
wie viele jüdische Deutsche, die sich von der Revolution Demokratisierung und Gleichstellung versprachen -, lassen ein Engagement für die Hornisse
nicht nur aus materiellen, sondern auch aus ideelen Motiven
naheliegend erscheinen.
Nach dem Ende seiner Gesellen-Wanderjahre kehrte Adolph, der bei Carl das Schriftsetzerhandwerk erlernt hatte, 1853 ins heimatliche Kassel zurück und trat in die kleine Unternehmung des Bruders ein. Richard Gotthelfts Rückblick beschreibt eindrucksvoll, wie bescheiden die Brüder und ihre Familien aufgrund der geringen Einnahmen etliche Jahre in äußerst beengten Verhältnissen lebten: höchste Sparsamkeit bei Kleidung und Ernährung war oberstes Gebot, "nur das zum Leben unbedingt Notwendige
[durfte] angeschafft und verbraucht werden", statt Milch wurde Wasser getrunken, Kleider durch Um- und Annähen von Abgetragenem hergestellt oder ausgebessert, die wenigen Zimmer zugleich als Wohn- und Schlafräume genutzt. Um die Ausgaben gering zu halten, halfen Ehefrauen, Kinder und Verwandte "in der Firma"
mit, falzten die bedruckten Bögen, kuvertierten sie, bestrichen die Matrizen mit frischer Farbe. Die Arbeitstage der Inhaber und ihrer Frauen begannen früh um 6 Uhr und dauerten nicht selten bis in die späten Abendstunden, die ihnen zur Bewältigung der Buchführung, zur Planung der nächsten Aufträge und der Werbung dienten. Langsam aber stetig ging es durch die eiserne Disziplin, den unermüdlichen Fleiß, das kluge Wirtschaften und das unternehmerisches Geschick der Beteiligten mit der kleinen Unternehmung bergauf - auch "ein gut Teil Glück", so steht es in der Richard Gotthelfts Erinnerungen, habe zum Gelingen beigetragen.
Als ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zum unternehmerischen Erfolg erwies sich die Herausgabe einer Tageszeitung. 1853 gaben die kurhessischen Regierungsbehörden den beiden Brüdern nach langwierigen Unterhandlungen endlich die Erlaubnis zum Druck eines Blattes - jedoch mit ausschließlich unpolitischen Inhalten. Mit dieser Bedingung sollte das Entstehen einer Tagespresse, die Kritik an den restriktiven politischen Verhältnissen in Kurhessen übte, verhindert werden. Am 4. November 1853 erschien das Gewerbliche Tageblatt und Anzeiger
in einer Auflagenhöhe von 150 Exemplaren als Probenummer, hergestellt auf der hölzernen Handpresse, die 13 Jahren nach der Gründung des Unternehmens noch immer die einzige Druckmaschine war. Auf vier Seiten brachte das Tageblatt laut Frieda Sichel, einer Enkelin von Carl, "wirtschaftliche Informationen und Artikel ohne politische Relevanz"
sowie "eine Todesanzeige".Einen Montag später, am 5. Dezember, brachten die Brüder die erste reguläre Ausgabe ihrer Zeitung heraus, die sich für 79 Jahre in der schon damals schnelllebigen Presselandschaft behaupten konnte!
Der Zeitungkopf und der Beginn des ersten Artikels der Nummer 1 vom 5. Dezember 1853 (Mikrofilmkopie.
Die auf dem Mikrofilm fehlende letzte (vierte) Seite wurde durch die entsprechende Seite der Ausgabe vom 9.12.1853 ersetzt.
In den folgenden Nummern erweiterte sich das Informationsangebot für die Leser beträchtlich: durch vermehrte Artikel zu Themen aus Handel und Gewerbe, durch die Fremdenliste,
die darüber informierte, wer in welchem Gasthaus oder Hotel der Residenz logierte, durch die Vorschau auf das Programm des Kurfürstlichen Hoftheaters, für das 1853 unter anderem Flotows Oper Martha
und Schillers Drama Die Räuber
angezeigt wurde. Unter der Überschrift Civilstand
führten die Brüder Geburten, Heiraten und Todesfälle in der Stadt auf und über die Entschließungen zu ihrem Haushalt berichteten sie in der Rubrik Etatberatungen. Im Werbeteil machten vor allem lokale Handelsbetriebe, Unterhaltungslokale und Gaststätten auf ihr Angebot aufmerksam. Doch gelang es Carl und Adolph immer wieder auch überregionale Inserenten zu gewinnen, so warb z. B. der Verlag Pierer für die dritte Auflage seines 17-bändigen Universal-Lexikons der Gegenwart und Vergangenheit,
das vom Publikum hochgeschätzt wurde und Joseph Meyer als Vorbild für sein berühmtes "Großes Conversations-Lexicon"
diente. Es ist anzunehmen, dass bei der Aquise von solch prominenten Inserenten sich die Kontakte als hilfreich erwiesen, die die Brüder auf ihren Gesellenwanderjahren geknüpft hatten.
Jede Nummer des Gewerblichen Tagesblatts und Anzeigers
brachte eine Erzählung oder Novelle in Fortsetzungen. Die Nummer 1 begann mit einer Seefahrergeschichte, die von einem jungen Mann berichtet, der die Welt kennen lernen möchte und deshalb auf einem Schiff anheuert, das Auswanderer in die Vereinigten Staaten bringt. Sicherlich hatten Carl und Adolph sich für dieses Sujet nicht zufällig, sondern bewusst entschieden, da es in einer Zeit der großen Auswanderungsbewegung auf gesteigertes Interesse stieß - sowohl bei jenen, die sich mit dem Gedanken trugen, die Heimat zu verlassen, als auch bei denen, die daheim blieben. Die einen wie die anderen fragten sich, womit auf einer Überfahrt in die Neue Welt gerechnet werden musste und konnten ihren Wissensdurst durch die Lektüre der lebendig geschriebenen Fortsetzungsgeschichte stillen. Die Wahl des Stoffes ist ein früher Hinweis auf den Geschäftssinn der Brüder, die ein ausgeprägtes Gespür dafür besaßen, was ansprach und seine Leser finden würde. Im Jahr darauf gelang es ihnen, eine Erzählung mit dem Titel Das Vermächtnis
in ihrem Blatt erscheinen zu lassen. Sie stammte aus der Feder von Gustav Freytag, der gerade dabei war, mit seinem Lustspiel Die Journalisten, das auf den deutschen Bühnen Furore machte, zur nationalen Berühmtheit zu werden. Auch mit dieser Veröffentlichung bewiesen Carl und Adolph, dass sie Entwicklungen wachen Augens wahrnahmen und Chancen ergriffen, die sich aus ihnen für ihr Unternehmen boten.
1856, nur drei Jahre nach der ersten Nummer des Gewerblichen Anzeigers, hatte der Gewinn des Unternehmens sich so gesteigert, dass eine mechanische Presse erworben werden konnten, deren Leistung die der Handpresse um ein Vielfaches übertraf und den Brüdern ganz neue Absatz- und Verdienstmöglichkeiten erschloss. Als dann 1866 die autokratische und fortschrittsfeindliche Herrschaft von Wilhelm II., des letzten Landgrafen und Kurfürsten, durch den Einmarsch preußischer Truppen in Kassel endete, gaben die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unter der neuen, ungleich liberaleren Regierung dem Unternehmen von Carl und Adolph weiteren Auftrieb. Endlich durfte ihre Zeitung über das politische Geschehen in Deutschland und der Welt berichten - auch in von Form von kritischen Stellungnahmen - und sich so weitere Leserkreise erschließen. Gute 70 Jahre später erschien das Blatt, die seit 1873 den Titel Casseler Tageblatt
trug, in einer Auflagenhöhe von ca. 21.000 Exemplaren.
Titelseite der Ausgabe B vom 23. November 1928.
Abonnenten der Ausgabe A erhielten die Zeitung von Montag bis Sonntag zweimal täglich in einem Morgen- und Abendblatt.
Abonnenten der Ausgabe B erhielten nur die Morgenausgabe.
Die politische Grundausrichtung, der das Blatt während seiner Erscheinungszeit von fast acht Jahrzehnten unter drei deutschen Staaten treu blieb, erschließt sich aus jenem Artikel, der am 15.8.1869, also drei Jahre nachdem die journalistschen Fesseln der kurhessichen Zeit gefallen waren, auf der Titelseite erschien: Carl und Adolph nutzten die noch junge politische Freiheit, um zur Gründung der Sozialdemokratische Arbeiterpartei
(SDAP) in Eisenach unmissverständlich Stellung zu dem zu beziehen, was
damals die Arbeitfragte genannt wurde: Zwar ist der Artikel, "dessen aufmerksame Lectüre [sic!] wir allen Arbeitern dringend empfehlen möchten", einer fremden Zeitung entnommen, doch verdeutlichte der vorangestellte Hinweis den Lesern, dass sein Inhalt sich mit den Überzeugungen der Brüder und ihres Gewerblichen Tageblatts
deckte, sie ihre Meinung durch fremde Worten äußeten: Die Führer der Arbeiter, so ist in dem Artikel zu lesen, seien frivole Agitatoren, von denen "die arbeitenden Klassen weder Belehrung noch Besserung ihres Looses
[sic!] zu erwarten haben."
Tenor des Beitrags ist, dass der Arbeiter unfähig sei, selbstverantwortlich zu sprechen und zu handeln, sondern seine Situation sich nur unter der gutmeinenden Führung des herrschenden Bürgertums, dem er seine Geschicke anzuvertrauen habe, zum Positiven wenden könne. Mit welcher Akzentierung die Gotthelfts diese Meinung durch die Jahrzehnte in ihrer Zeitung vertraten, zu welchen Phasen der deutschen Geschichte sie also liberalere oder konservativere Standpunkte innerhalb ihrer bürgerlichen Weltanschauung bezogen, werde ich an anderer Stelle detailliert schildern.
Der gewaltige ökonomische Aufschwung, den Kassel als Hauptstadt der neugeschaffenen preußischen Provinz Hessen-Nassau nach 1866 nahm, kam nicht nur der Zeitung zugute, auch andere Geschäftszweige der Gebrüder Gotthelft profitierten, darunter die Anzeigenwerbung und die Zulieferung von Druckerzeugnissen an weiterverabeitende Industrien. Die Expansion des Unternehmens erforderte 1879 den Umzug in größere Räumlichkeiten. In der Kölnischen Straße 10 und einem hinter dem Haupthaus neu errichteten vierstöckigen Gebäude befanden sich die Wohnungen der Inhaber, die Geschäftsstelle, das Papierlager, die Buchbinderei, die Maschinensäle sowie die hauseigenen Energieanlage: zwei große Dampfmaschinen mit Röhrenkesseln und eine Dynamostation zur Stromerzeugung. Die Befeuerung der Dampfmaschinen erfolgte automatisch und entsprach damit dem neuesten Stand damaliger Technik. Schon nach wenigen Jahren genügten die Räume dem stetig wachsenden Unternehmen nicht mehr, was den Erwerb und Umbau weiterer anschließender Grundstücke nötig machte.
Die Zeichnung von Frieda zeigt das Gebäude Kölnische Straße 10 im Jahr 1909 (Leo Baeck Institute New York, Fritz R. Katzenstein Family Collection).
Über dem großen Eingang im Mittelbereich war das Hoflieferantenwappen angebracht. Das Unternehmen führte für das Hoflager des Kaisers auf der Wilhelmshöhe regelmäßig Aufträge aus, weshalb die Inhaber im Jahr 1896 zu Königlichen Hofbuchdruckern
ernannt wurden. Das Prädikat Königlich
ist damit zu erklären, dass der Kaiser in Personalunion auch König von Preußen war, zu dessen Herrschaftsgebiet Kurhessen und damit auch Kassel seit 1866 gehörten. Hinter den zwei Schaufenstern links vom Eingang betrieben die Gotthelfs zeitweise auch Papier- und Schreibwarengschäft.
Carl starb 1880, ein knappes Jahr nach dem Umzug der Druckerei in die Kölnische Straße, und folgte damit seiner Frau Therese, die mit ihrem Fleiß in Geschäft und Haushalt, ihrem klugen Wirtschaften und ihrer Fürsorge wesentlichen Anteil am Gelingen des Projekts Gotthelft hatte. Therese war bereits 1869 verstorben und hatte den immensen betrieblichen Aufschwung, der schließlich die Verlegung des Unternehmens erforderte, nicht mehr erlebt. Adolph und seine Ehefrau Fanny hingegen durften bis in das neue, das 20. Jahrhundert, die Früchte ihrer Arbeit genießen. 1886 bezogen sie in der Kölnischen Straße Nr. 42 eine repräsentative Villa, die für fast zwei Jahrzehnte zum Mittelpunkt der Familie Gotthelft wurde. "Sonntag abend
[sic!] waren sämtliche Kinder und Enkel dort versammelt, und die Tafel in dem großen Speisezimmer dehnte sich, dank dem Familienzuwachs, mit den Jahren immer weiter aus. Wie schön waren die Abend und mit welcher Freude wurden wir hier bewirtet!"
- so Richard, der Sohn von Adolph, in seinen Lebenserinnerungen. Adolph starb 1901 mit 73, Fanny 1906 mit 70 Jahren.
Grabobelisk von Adolph und Fanny, die von der Familie liebevoll Fannychen
genannt wurde, im April 2019 (Foto Chr. H.)
Grabstein von Carl auf dem jüdischen Friedhof in Bettenhausen um das Jahr 2007 (Der Jüdische Friedhof - Eine Stätte des Lebens - Alter Jüdischer Friedhof zu Kassel-Bettenhausen, CD-ROM, Jüdische Gemeinde Kassel 2007).