Bertha: 1892-1903

Berthas Weg ins Scheinwerferlicht war lang. Henny Porten, Fern Andra und Albert Bassermann, die wie Bertha zu den Leinwandstars der Stummfilmzeit zählten, kamen von Kindesbeinen an mit Kunst in Berührung.

Kunst als Beruf und Berufung erlebten sie als etwas Selbstverständliches. Hennys Vater leitete ein Stadttheater, Ferns Vater sang an der Oper und Alberts Onkel spielte auf der Bühne. Bei Bertha verhielt es sich anders: Der eine Großvater arbeitete in einem Dorf als Fleischer, der andere handelte in einer Kleinstadt mit Alttextilien. Eduard Herz, ihr Vater, bestritt das Auskommen der Familie zunächst als kaufmännischer Angestellter, dann als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens. Kunst  wurde Bertha nicht in die Wiege gelegt.

Eduard und seine Ehefrau Adelheid zogen im August 1891, ein halbes Jahr vor Berthas Geburt, nach Mannheim. Die Stadt stand im Ruf, eine Boomtown zu sein, in der man es mit Fleiß und einer Portion Glück zu etwas bringen konnte. Die größte Wirtschaftsmetropole im Südwesten Deutschlands prosperierte und bot Verdienstchancen in Fülle. Als Eduard und Adelheid ankamen, wohnten knapp 80.000 Menschen in Mannheim, nur zehn Jahre später  bereits mehr als 141.000.


Das frisch verheiratete Paar – er zählte 32 Jahre, sie gerade einmal 19 Jahre – begann nicht mit leeren Händen. Das Startkapital stammte aus Eduards früheren Tätigkeiten und der Mitgift, die Adelheid zur Existenzgründung von den Eltern erhalten hatte. Da ihr Betrieb einen beachtlichen Umfang hatte, ist es wahrscheinlich, dass die Zuwendung entsprechend großzügig ausfiel. Für die Vermutung spricht auch der Ehevertrag, den Eduard und Adelheid einen Tag vor der Heirat schlossen. Mit ihm bestimmten sie die Summe, die jeder von ihnen in die eheliche Gütergemeinschaft einbrachte. Die weiteren Mittel der Partner verblieben in ihrem jeweiligen Eigentum. Im Fall von beruflichen Misserfolgen des Ehemanns hätte die Gläubiger Adelheid für eventuelle Schulden und Verbindlichkeiten nicht mit ihrem eigenen Geld zur Rechenschaft ziehen können.


Die erste Unterkunft des Ehepaars lag in Quadrat K1. Das Haus mit der Nummer 11 war ein Neubau, vor dem sich eine kleine Parkanlage erstreckte. Vor ihr verlief der breite Luisenring als Teil des Prachtboulevards, der die Mannheimer Innenstadt umgab. Die mehrstöckigen Häuser im Stil des Historismus, seine Denkmäler und Springbrunnen machten ihn zu einem beliebten Postkartenmotiv.

Der Luisenring in Mannheim, zur Zeit von Sybil Morel/Bertha Gotthelft

Das erste Bild zeigt einen Teil des Luisenrings kurz nach der Jahrhundertwende. Quelle Postkarte Verlag Dr. Trenkler Co., Leipzig, 1906. Gemeinfreies Lichtbildwerk.

Das Ehepaar bewohnte ihr neues Heim nicht allein. Es brachte aus Heilbronn das Dienstmädchen Friedricke Nägele mit, das Adelheid im Haushalt unterstützen sollte:

beim Kochen, beim Hausputz, bei der Wäsche, beim Ausbessern der Kleidung, bei den Einkäufen in den Geschäften und an den Marktständen, bei der Betreuung der geplanten Kinder. In der bürgerlichen Mittelschicht, zu der Eduard und Adelheid gehörten, konnte sich bei weitem nicht jede Familie eine solche Hilfe leisten.

Jedoch: In den folgenden Jahren wechselte das Ehepaar mehrmals den Wohnsitz. Der erste Umzug erfolgte bereits ein paar Monate nach der Ankunft. Das neue Domizil befand sich ein paar Querstraßen weiter, im Quadrat K4. Dort, im Haus mit der Nummer 4, wurde Bertha am 16. Februar 1892 morgens um drei viertel sieben geboren. Als Eduard am nächsten Tag die Geburt auf dem Standesamt meldete, diktierte er dem Beamten für seine Tochter zwei Vornamen. Sie lauteten Betty Bertha.
Die Straße, in der Sybil Morel/Bertha Gotthelft geboren wurde.

Blick ins Quadrat K4 Richtung Neckar und Neckarstadt-Ost. In der Bildmitte historische Architektur, die bereits stand,
als Bertha  geboren wurde. Am linken Bildrand das Haus Nr. 4. Fotografie von Christian Hartmeier, 31.3.2023.

Nachfolgebau der Nummer 4, in der Bertha geboren wurde.

Die Nummer 4, in der Bertha geboren wurde, hat sich nicht erhalten. An ihrer Stelle steht dieser Neubau. Fotografie von Christian Hartmeier, 31.3.2023.

Aus dem Geburtsregister des Standesamts Mannheim

Ausschnitt aus Berthas Geburtsurkunde. Quelle: Geburtsregister Standesamt Mannheim und Vororte 1876–1900,
Stadtarchiv Mannheim, Nr. 1–805, Urkunde 426. Eingesehen über Ancestry.com.

1896 kam Berthas Bruder Robert Ludwig zur Welt. Damals wohnte die Familie bereits im Quadrat B6. Von dort ging es nur zwei Jahre später an den Parkring. Was waren die Gründe für die Umzüge quer durch die Altstadt? Weshalb muteten die Eltern sich und ihren Kindern die häufigen Ortswechsel zu? Waren Eduard und Adelheid ruhelose Geister, die es nirgendwo lange aushielten und stets die Veränderung suchten? Oder hatten sie zu optimistisch in die Zukunft geblickt, als sie am vornehmen Luisenring ihr erstes Quartier bezogen? Hatten die Geschäfte sich nicht wie erwartet entwickelt, so dass gespart werden musste? Weder die Wohnung im Quadrad K4 noch die im Quadrat B6 und schon gar nicht die am Parkring lag ähnliche ähnlich prominent wie die erste am Luisenring, keine war ein Neubau. Fiel das Dienstmädchen, das aus den behördlichen Unterlagen als Mitglied des Haushalts gestrichen wurde, dem Rotstift zum Opfer?

Als Eduard und Adelheid mit ihren Kindern am Parkring 21 die nächste Unterkunft bezogen, war Bertha sieben Jahre alt. Etwa zu dieser Zeit beginnen Kinder ein autobiografisches Gedächtnis zu entwickeln. Es besteht aus Erinnerungen an Orte, an Begegnungen und an Erlebnisse, die einen starken Eindruck hinterlassen haben. Im späteren Leben können sie bewusst abgerufen werden oder drängen sich unwillkürlich ins Bewusstsein. Erzählte Bertha ihrem Lebensgefährten in den 30er Jahren, nachdem ihr der Besuch der Berliner Parkanlagen verboten war, von dem, was sie und ihr kleiner Bruder sahen und hörten, wenn sie die Köpfe aus einem der Fenster im dritten Stock der Nr. 21 steckten?


Gegenüber der Wohnung erhob sich das Grün des Stadtgartens, der in den Schlossgarten mit seinen hundertjährigen Kastanien und mächtigen Gruppen von Eschen, Ulmen, kanadischen Pappeln, Ahornbäumen und Blutbuchen überging. Die weitläufige Parkanlage wurde von damaligen Reiseführern als eine der schönsten in Süddeutschland gelobt. Tägliche Konzerte einer Militärkapelle und festliche Veranstaltungen lockten in der Sommersaison die vornehme Gesellschaft Mannheims an. Am Abend glänzten Lampions und Laternen als Lichtpunkte zu Bertha und Robert herüber und auf den Wegen erkannten sie schemenhafte Gestalten.


Auf der Straße, die das Haus vom weiten Grün trennte, gab es die damals noch von Pferden gezogene Straßenbahn zu bestaunen, ebenso hochbeladene Fuhrwerke und elegante Kutschen. Arbeiter zogen Karren und schoben Handwagen. Hin und wieder knatterte eines der noch seltenen Automobile vorbei, auf das die Kinder aufgeregt mit den Fingern zeigten.


Im Gebäude nebenan war eine Gaststätte untergebracht, die den schönen Namen Zur Hoffnung trug: Bierfässer wurden gerollt, Körbe mit Gemüse und Kisten mit eisbedecktem Fleisch hineingetragen. Im Frühjahr und Sommer drang aus der Gartenwirtschaft leises Stimmengemurmel herüber, ab und an lautes Gelächter.

Parkring 21 in Mannzheim: Wohnort von Sybil Morel/Bertha Gotthelft

Die Wein- und Bierwirtschaft Zur Hoffnung um das Jahr 1894.  Ein paar Monate nach dem Auszug der Familie Herz aus dem Wohnhaus im Hintergrund mussten die Gebäude der Gaststätte einem Neubau weichen.  Quelle: Mannheim in Bildern - Post Rainer Marker vom 9. April 2023. Gemeinfreies Lichtbildwerk. Das Bild wurde von mir grafisch aufbereitet.

Hinter der Nr. 21 erstreckte sich entlang des Rheins der größte Binnenhafen Deutschlands. Eine Eisenbahnlinie führte zum zentralen Güterbahnhof und zum Zollamt. Das Rumpeln der Lokomotiven und Wagen begleitete Bertha und Robert tagein und tagaus. Jeder Zug erschütterte die Wohnung und ließ Geschirr und Besteck in den Schränken klirren. Von den rückwärtigen Fenstern ging der Blick auf bergehohe Lagerstätten von Holz und Kohle und auf mächtige Getreidespeicher. Frachter machten an den Kais fest, um mit Dampfkränen oder Muskelkraft ent- und beladen zu werden. An den Anlegestellen der Fähren, die Mannheim mit dem benachbarten Ludwigsburg und dem fernen Köln und Düsseldorf verbanden, wimmelte es von Menschen.

Der Vater von Bertha und Robert trug zu der Bewegung bei, die im Rheinhafen zu  Wasser und Land ständig herrschte. 1897 war es ihm gelungen, mit einem Teilhaber die Firma des Mannheimer Kaufmanns August Eberstadt zu erwerben, der sich zur Ruhe setzte. Das Unternehmen besaß einen angesehenen Namen und engagierte sich europaweit in der Produktion und im Vertrieb von Wollwaren. In Apolda und Chemnitz hatte es Niederlassungen. So ein Erfolg, wie Eduard ihn hatte, ist nur durch harte Arbeit zu erreichen. Es ist anzunehmen, dass er sich in seinen Beruf einspannte, bis tief in die Nacht, und noch arbeitete, wenn andere, die über eine geringere Willensstärke verfügten und weniger ehrgeizige Ziele verfolgten, längst schliefen.


Das nächste Domizil, das die Familie bezog, war das äußere Zeichen für die gestiegenen materiellen Möglichkeiten. Das Mannheimer Adressbuch für das Jahr 1900 verzeichnet als Wohnort der Familie die Goethestraße 16a. Dort hatten Eduard und Adelheid in einem Neubau eine moderne Wohnung erworben. Vielleicht roch es noch nach frischer Farbe, als die Familie im 4. Stock einzog: fünf Zimmer, so ist einer Zeitungsnotiz zu entnehmen, mit Küche, Badezimmer und Balkon – das Ganze in einem Stadtteil, dem sogenannten Villenviertel, das gerade für die bessere Gesellschaft entstand.

Was für ein Unterschied zur Nr. 21 am Parkring! Die Welt der Arbeit mit ihren Gerüchen, Geräuschen und Bildern rückte in weite Ferne. Keine Tram vor, keine Eisenbahn hinter dem Haus, keine Lastenträger in abgetragenen Kitteln und Schürzen, keine Steuermänner, Kellner, Maschinenmeister und Lagerarbeiter als Nachbarn. Unter der Familie Herz, im Erdgeschoss, wohnte ein Kaufmann, im dritten Stock ein promovierter Jurist in höherer Position, in den Häusern links und rechts Ingenieure, Fabrikanten, Architekten, Rechtsanwälte und Prokuristen mit ihrer Familie und den Dienstboten. Sinnbild für das wohlhabende Bürgertum in der Oststadt waren die großzügigen Tennisplätze an der Goethestraße. Vom Balkon konnten Bertha und Ludwig in der warmen Jahreszeit verfolgen, wie die Spielerinnen und Spieler sich auf den Plätzen die Bälle zuschlugen. Mit der neuen Wohnung in bester Lage hatten Eduard und Adelheid ihren beiden Kindern das Nest bereitet, in dem sie flügge werden sollten.

Sybil Morel/Bertha Gotthelft: Wohnen in bester Mannheimer Lage.
Sybil Morel/Bertha Gotthelft: Blick von einem der oberen Stockwerke in der Mannheimer Goethestraße.

Das obere Postkartenmotiv zeigt die neu erbaute Goethestraße mit frisch gepflanzten Bäumen. Auf dem rechten Gehsteig sind bürgerliche Damen mit ihrem Nachwuchs in Begleitung von Dienstmädchen unterwegs. Die Herren auf dem linken Gehsteig verfolgen das Spiel auf den Tennisplätzen. Das untere Motiv zeigt den Blick aus einem der oberen Stockwerke der Goethestraße. Quelle: Postkarten Kunstanstalt Hermann Ludewig, Leipzig, Poststempel Mannheim 1904 bzw. 1906. Gemeinfreie Lichtbildwerke.

Was erlebten Bertha und ihr kleiner Bruder auf den Sonntagsspaziergängen, die damals in den besseren Kreisen feste Tradition waren?

In der Stadt gab es viel zu sehen, das für die Kinder spektakulär war, ja sie geradezu in Entzücken und Aufregung versetzen musste, woran wiederum Eduard und Adelheid sich erfreuten: Zu den Attraktionen gehörte das Großherzogliche Schloss, eine der größten Palastanlagen in Deutschland. Dort fanden am Sonntag zwischen halb 12 und 12 Militärparaden statt. Soldaten in bunten Uniformen und polierten Messingknöpfen marschierten unter dem Beifall der Schaulustigen in den Innenhof, die Militärkapelle spielte Marschmusik. Danach brandete Beifall auf, Hochrufe auf den Kaiser wurden ausgebracht.

Öffentliche Konzerte gab es am Sonntag auch am Friedrichsplatz. Auf ihm steht noch heute das Wahrzeichen von Mannheim: der mächtige, 50 Meter hohe Wasserturm. Um ihn gruppieren sich der große Brunnen und einige kleinere Becken. Ich stelle mir die Geschwister vor, wie sie jedes Mal vor Freude jauchzten, wenn die Fontäne des großen Brunnens in regelmäßigen Abständen in den blauen Himmel stieg und das Wasser rauschend zurückfiel.

  Wie oft verlängerten der Vater und die Mutter den Sonntagsspaziergang, weil Bertha und Robert bettelten: „Bitte noch einmal zur Fontäne…“ – „ Bitte noch einmal zu den Soldaten…“ ? Wie oft hörten die Kinder vom viel beschäftigten Vater: „Nächsten Sonntag, ihr Lieben, nächsten Sonntag… Heute habe ich keine Zeit mehr. Ich muss noch arbeiten… “?
 
Erinnerten sich Adelheid und Bertha vierzig Jahre später im Gespräch an jene längst vergangene Zeit,
„Weißt Du noch? Damals…?“ Dachten sie daran, wie sie im Biergarten der Hoffnung unter den Arbeitern saßen und aßen und tranken – und niemand danach fragte, ob sie Juden waren? Wie sie an Sonntagen in den Flussbädern schwammen, getrennt nach Geschlechtern, hier die Männer und Knaben mit Eduard und Ludwig, dort die Frauen und Mädchen mit Adelheid und Bertha – und niemand danach fragte, ob sie Juden waren? Wie sie auf einer Bank an den Tennisplätzen saßen und den Bällen zusahen, die über das Netz geschlagen wurden – und niemand danach fragte, ob sie Juden waren?


Und weiter: Dachten sie an die Nadelstiche, die ihnen immer wieder ins Bewusstsein riefen, dass einige der Arbeiter, Badenden und Zuschauer von ihnen abgerückt wären, wenn sie gewusst hätten, dass sie Juden waren?



Ein paar Monate, nachdem die Familie in die Goethestraße gezogen war, lud Walter Graf von Pückler-Tschirn, einer der aggressivsten Antisemiten im Kaiserreich, zu einer großen öffentlichen Versammlung ein.


Die Anzeige erschien in unübersehbarer Aufmachung im Generalanzeiger für die Stadt Mannheim. Im Apollo-Theater sprach Pückler zum Thema „Deutschland und die Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts“.  Judenfeindschaft und Judenhass waren damals in allen Gesellschaftsschichten verbreitet und wurden – wie das Beispiel zeigt – in aller Öffentlichkeit gepflegt und propagiert. So wurden jüdische Deutsche immer wieder daran erinnert, dass Teile ihrer Mitbürger sie als Feinde betrachteten.


Pückler tourte mit seinem judenfeindlichen Lebensthema über viele Jahre hinweg durch Deutschland. Aus Erfahrung wusste er, mit welcher Zuhörerzahl er in einer Stadt entsprechend ihrer Größe ungefähr rechnen konnte. Danach richtete er die Wahl des Veranstaltungsortes aus. In Mannheim entschied er sich für das Apollo-Theater, das bei reihenweiser Bestuhlung Platz für 1200 Besucher bot!


Was fühlten Eduard und Adelheid, als sie beim Frühstück in der Zeitung antisemitische Artikel und Anzeigen lasen? Ich stelle mir vor, wie Eduard das Blatt an Adelheid reichte und dabei auf die Zeilen tippte -wortlos aus Rücksicht auf die beiden Kinder am Tisch. Wie fühlt man sich, wenn man gehasst wird?


Eduard erlebte nicht mehr, wie die Nazis den Antisemitismus zur Staatsdoktrin erhoben, ihn systematisch schürten und jeden Monat ein oder mehrere Gesetze erließen, die jüdische Deutschen in ihrem Alltag und ihren Bürgerrechten empfindlich beschnitten. Am 14. Mai 1900 meldete Isaak May, Mitgesellschafter der Firma Eberhart, dem zuständigen Standesamt den Tod seines Geschäftspartners. Eduard war, mit nur 41 Jahren, gegen halb vier Uhr nachmittags verstorben. Sein Grabmal auf dem jüdischen Friedhof in Mannheim hat sich durch die Zeiten erhalten. Mit einiger Mühe sind die verwitterten Worte zu entziffern, die Adelheid dem Verstorbenen als Nachruf auf den Sockel setzen ließ: Du bist zu früh von uns geschieden,/ Umsonst war Deiner Lieben Fleh´n,/ Gott gebe Dir den ewigen Frieden/ Und uns ein baldigst Wiedersehen. Völlig unerwartet hatten Bertha und Robert den Vater, Adelheid den Ehemann verloren.

Sybil Morel/Bertha Gotthelft: Der jüdische Friedhof in Mannheim.

Eduards Grab auf Mannheims jüdischem Friedhof.
Fotografie von Christian Hartmeier, 31.3.2023

In Liebe im Tonfilmatelier lässt Bertha den Filmstar Maud Marion, die mit bürgerlichem Namen Martha Steege heißt, zu einer Kollegin sagen:


 „Mein Vater starb, als ich acht Jahre alt war.” Das Schicksal der literarischen Gestalt gleicht dem ihrer Schöpferin, beider Vorname unterscheiden sich in nur zwei Buchstaben. Diese und viele weitere Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen Berthas Leben und der Handlung in ihrem Roman dürfen indes nicht dazu verführen, Liebe im Tonfilmatelier als Tatsachenbericht zu lesen.


Im Text liegen Dichtung und Wahrheit oft und nahe beieinander. Das zeigen Mauds weitere Erinnerungen an ihre Kindheit: „Meine Mutter musste arbeiten, um unsern kümmerlichen Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie ging als Hausschneiderin in die Wohnungen reicher Leute.“ Mauds Sätze scheinen eine Antwort auf die Frage zu geben, wie und mit welchem Erfolg Adelheid sich und ihre Kinder über die Runden brachte, wie sie das Geld für Miete, Nahrungsmittel und Kleidung erwirtschaftete. Jedoch: Wie sah die familiäre Realität aus, fristeten die Witwe und die zwei Waisen tatsächlich ein kümmerliches Leben?


Ein knappes halbes Jahr nach dem Tod Eduards übernahm der Kompagnon Isaak May das Unternehmen als alleiniger Gesellschafter und zahlte die Anteile des Verstorbenen an Adelheid aus. Die Summe, die floss, erlaubte es Adelheid nicht, mit den Kindern in der teuren Goethestraße zu bleiben. Im Oktober 1900 inserierte sie die Wohnung dort als „sehr preiswert zu vermieten“. Wieder wechselte die Familie die Unterkunft und verkleinerte sich dabei von fünf auf vier Zimmer.


Die Lameystraße lag im selben vornehmen Viertel – aber in weniger exponierter und deshalb preiswerterer Lage. Wieder ging es in einen Neubau, wieder zählten die Hausgenossen zur besseren Gesellschaft: ein Gartenarchitekt, ein Amtmann, ein Fabrikant und ein Gastronomiebesitzer. Im Erdgeschoss betrieb ein Bäcker sein Handwerk. Die Ausführungen zeigen: Es kann durchaus sein, dass Adelheid als Hausschneiderin dazuverdiente, um die Mittel der Familie aufzubessern. Vielleicht führten sie und ihre Kinder nach dem Tod des Vaters ein bescheideneres und sparsameres Leben. Armselig oder dürftig – das ist die Bedeutung des Wortes kümmerlich, das Maud benutzt – war es jedoch gewiss nicht.


Das Beispiel zeigt, dass Bertha im Text ihre Lebensgeschichte umerzählte. Im vorliegenden Fall tat sie es wahrscheinlich, um die Handlung und ihre Charaktere für das Publikum ansprechender zu gestalten, auf das der Goldmann-Verlag mit seiner Reihe Frauen-Romane zielte, in der Liebe im Tonfilmatelier erschien. Sie brachte leichte Literatur für Frauen, die eher den unteren sozialen Schichten angehörten und leise Töne weniger zu würdigen wussten als laute. Eine Halbwaise, die aus armseligen Verhältnissen zum Filmstar aufstieg, traf stärker ins Herz, als eine Halbwaise aus besseren Verhältnissen.


Zu den weiteren Tributen von Bertha an ihre Leserinnen zählen u. a. die derb-komische Gestalt der Garderobiere Pimpfmeyer, das grauenvolle Ende des Regisseurs Fred Koster und die angsterfüllten Stunden, die Lotte, die zweite weibliche Hauptfigur des Romans, in einem einsamen Wald in Gesellschaft einer Gruppe von Sinti und Roma verbringt. Die bezeichnet Bertha, wie es damals üblich war, als Zigeuner und bedient in ihrer Schilderung alle gängigen Klischees und Vorurteile.


Es gab noch einen weiteren Grund, weshalb Bertha sich die dichterische Freiheit nahm, in den Roman Elemente einzubringen, die sich in ihrem Leben nicht finden. Schreibend kompensierte sie bewusst oder unbewusst, was das Schicksal ihr vorenthalten hatte. Im Roman spielt Lottes Vater eine sehr viel größere und vorteilhaftere Rolle als die Mutter. Archivar Bergemann nimmt seine Tochter ernst und befürwortet ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden. Als sie in ernsthafte Schwierigkeiten gerät, ist er es, der sich auf die Suche nach der Verschwundenen begibt. Die Vermutung liegt nahe, dass Bertha im Roman einen Vater gestaltete, wie sie ihn in als Jugendliche und Erwachsene gerne gehabt hätte: einen verständnisvollen Zuhörer und Berater, der ihr beiseite stand, als die Probleme übermächtig wurden und von ihr alleine nur schwer zu schultern waren: Als am Theater in Chemnitz der Erfolg ausblieb, als es mit der Kinokarriere bergab ging, als die Ehe scheiterte, als der Verfolgungsdruck im nationalsozialistischen Deutschland immer höher und die Frage immer drängender wurde: „Bleiben oder auswandern?“

Das Haus in der Lameystraße steht – im Unterschied zu den früheren Adressen – noch heute.

Fast unverändert hat es sich erhalten: die Fassade, das Treppenhaus, das Geländer, die Türen. Die Wohnung von Adelheid und den Kindern lag mit ihren vier Zimmern im ersten Stockwerk neben der eines Chemikers. Auf dem Bild und dem Video sind die zwei Türen zu sehen, die zu den Räumen dahinter führen. Die Zeit scheint an diesem Ort stillzustehen. Ich habe das Gefühl, als müsse jeden Augenblick die achtjährige Bertha eine der Türen aufreißen und an mir vorbei die Treppen hinabstürmen. So nah kann Vergangenheit plötzlich sein, selbst wenn sie gute 120 Jahre zurückliegt.

Das Haus in der Mannheimer Lameystraße, wo Adelheid Herz mit ihrer Tochter Bertha wohnte, der späteren Schauspielerin Sybil Morel.

Haus und Wohnungseingang in der Lameystraße. Fotografie und Video von Christian Hartmeier, 3.2.2022.

Im März 1903 zog Adelheid mit Bertha und Robert wieder um. Dieses Mal ging es nicht nur eine Straße oder ein Viertel weiter, sondern nach Wertheim an der Grenze des Großherzogtums Baden zum Königreich Bayern. Zwischen Mannheim und dem neuen Wohnort lagen nur hundert Kilometer, doch konnten die Unterschiede kaum größer sein. Was hatte Adelheid dazu bewogen, die betriebsame Metropole mit ihren knapp 150.000 Einwohnern zugunsten des 4000 Seelenstädtchen aufzugeben?

Share by: