Die Kinder

Ärzte, Angestellte, Wissenschaftler, Künstler, Bankiers


Unabhängig von unserem Willen, unserer Güte, unseren Fähigkeiten und all dem, was wir leisten oder nicht leisten, empfinden uns viele Menschen dieses Landes als Belastung ihres Volkslebens. Häufig wird von ihnen gesagt, daß das Dasein unserer Rasse, die Existenz unseres Geistes, das Vorhandensein unserer Religion, die Physiognomie unserer Gesichter, der Habitus unseres Lebens das Volk unglücklich mache.

Rabbiner Joachim Prinz, Das Leben ohne Nachbarn, in: Jüdische Rundschau vom 17.4.1935 (Nr. 31/32, Jahrgang 49).

Die Darstellung der nächsten Generation konzentriert sich auf die Kinder der vier Haupteigentümer des Kasseler Tageblatts: auf Therese (1882-1965) Alice (1885-1977) und Leonore (1890-1967), die Töchter von Wilhelm und Emma Gotthelft, auf Julie (1895-1944), die Tochter von Albert und Mathilde Gotthelft, auf Adele (1892-1967), die Tochter von Richard und Selma Gotthelft, und auf Frieda (1889-1976), die Tochter von Theodor und Fanny Gotthelft.
Die Biographien der Kinder erzählen beispielhaft Lebensläufe jüdischer Frauen aus bürgerlichem Elternhause: Auch Adele folgte, wie mancher jüdische Deutsche / gehörte zur künstlerischen Elite, die zu einem Gutteil aus Juden bestand, dem Ruf der Kunst, ließ sich als klassische Sängerin in der Stimmlage Alt ausbilden und gastierte an bedeutenden Bühnen in Deutschland. Alice und Leonore stiegen durch ihre Ehe ins Großbürgertum auf und führten dort ein Leben, das beruflichen Verpflichtungen enthoben war. Sie widmeten sich ihren Interessen in Kunst und Sport, unterstützten Künstler, betätigten sich karitativ. Therese heiratete einen jungen, ambitionierten Arzt. Mit viel Fleiß und harter Arbeit gelang ihnen der Aufbau eines Sanatoriums, das sie fast 30 Jahre gemeinsam führten. Er kümmerte sich um die medizinische Versorgung der Gäste, sie um die Arbeitsorganisation in dem großen Haus. Julie und Frieda hingegen setzten sich an die Spitze einer gesellschaftlichen Entwicklung, die von traditionell denkenden Zeitgenossen missbilligt, abgelehnt, ja sogar bekämpft wurde. Sie ließen sich in Berufen ausbilden, die bis dahin Männern vorbehalten waren. Julie absolvierte eine Lehre als Laborantin, Frieda studierte als eine der ersten Frauen überhaupt in Deutschland und erwarb sich den Doktortitel mit einer ausgezeichneten Dissertation über den englischen Philosophen, Politiker und Ökonomen John Stuart Mill.
Hier noch kurz genauer auf das Jüdische eingehen! Buch von Kaplan... Künstleranteil von Juden an deutscher Kultur, Juden als Speerspitzen der Moderne.
Das Jahr 1933 bedeutete für jüdische Deutsche eine brutale Zäsur: Die antisemitische Hetze des Naziregimes sprach ihnen wegen ihres jüdischen Herkommens ihr Deutschsein ab, erklärte sie zu minderwertigen Bürgern und stigmatisierte sie durch Jahrhunderte alte Vorteile, die viele längst überwunden geglaubt hatten. Als Reaktion auf die allgegenwärtigen Diskriminierungen und die Akte barbarischer Gewalt emigrierten die Geschwister Alice und Therese mit ihren Familien nach England, Frieda mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrer Tochter nach Südafrika, Adele nach Pälästina. Eleonore und ihr Ehemann konnten sich noch in den späten 30er Jahren in einer abenteuerlichen Flucht nach Mexiko retten. Zuvor war es ihnen gelungen, ihren kleinen Sohn Werner mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit zu bringen. Durch die Flucht aus Deutschland wurde das Leben der sechs Frauen in neue, ihnen zuvor nicht vorstellbare Bahnen gelenkt, die beispielhaft für die verschiedenen Erfahrungen sind, die Emigranten in der aufgezwungenen Fremde machten:
Während der Ehemann von Frieda im südafrikanischen Johannesburg rasch eine Stelle in seinem erlernten Beruf fand, gelang das in England den Gatten ihrer Cousinen Therese und Alice nicht. Die zwei Männer konnten aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr arbeiten oder mussten sich in Berufen versuchen, die ihnen nicht gemäß waren, so dass der Erfolg ausblieb. Sie lebten mit ihren Frauen, die tatkräftig, aber wenig einträglich hinzuverdienten, ein bescheidenes, zeitweise sogar kümmerliches Leben in einer Gesellschaft, in der sie sich noch Jahre und Jahrzehnte nach der Ankunft fremd fühlten. Was macht Otto Neuhäuser in Mexiko? Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass Emigranten, jüdische und nicht-jüdische, im Gastland stets mit offenen Armen aufgenommen wurden. Reserviertheit, Misstrauen, Ablehnung machte es den Neuankömmlingen schwer, sich einzuleben und in einer Gesellschaft heimisch zu werden, deren Umgangsformen und Gepflogenheit sich von denen daheim erheblich unterschieden, deren Sprache sie kaum beherrschten und - vor allem die Älteren - nur mühsam erlernten.
julie blieb, als einzige der sechs Frauen, in Deutschland. Sie hatte einen nicht-jüdischen Mann geheiratet. Die Ehe schützte sie vor einigen der vielen Maßnahmen, die das Regime, quasi seit dem Tage der Machtübernahme, auf nationaler und lokaler Ebene gegen jüdische Deutsche verhängte, um ihnen die ideele und materielle Lebensgrundlage zu rauben und sie dadurch zum Verlassen der Heimat zu zwingen. Doch nicht nur das Leben in einer Mischehe - so die damals amtliche Bezeichnung -  ließen Julie und ihren Mann hoffen, mit dem kleinen Sohn die nationalsozialistische Verfolgung unbeschadet zu überstehen: Julie war ihrem Ehemann in ein thüringisches Landstädtchen gefolgt, zu dessen Honorationen die Schwiegereltern und der Schwager zählten. Aus diesem Grund konnte kaum jemand in der Familie, die seit Generationen ein wirtschaftlicher Motor des Gemeinwesens und örtlichen Entscheidungsträgern freundschaftlich verbunden war, sich vorstellen, einen der ihren, sei er nun jüdischen oder christlichen Herkommens, gegen die Staatsgewalt nicht schützen zu können. Ein folgenschwerer Irrtum, der heute, in Kenntniss der Totalität der NS-Herrschaft, kaum glaubhaft oder nachvollziehbar erscheint. Im Mai 1944 wurde Julie denunziert, verhaftet und im November 1944 in einem Konzentrationslager ermordet – wie achtzehn weitere Mitglieder der Familie Gotthelft.
Die biographischen Studien über Therese, Leonore, Alice, Julie, Adele und Frieda porträtieren sechs starke Frauen, die unter dem Verfolgungsdruck des nationalsozialistischen Regimes bzw. den schwierigen Bedingungen in der Emigration Fähigkeiten und Eigenschaften entwickelten, die sie praktischer und entschlossener handeln ließen als ihre Männer: Dazu gehörte Mut, der manchmal die Grenzen zur Kühnheit überschritt, Tapferkeit bis hin zur Selbstaufopferung, und Kraft zur Bewältigung von Lebenssituationen, die sich der vom Wohlstand verwöhnte und vom Konsum übersättigte MItteleuropäer der Gegenwart nicht vorzustellen vermag.

Die Gotthelfts im Kontext


Weimarer Republik


Deutsch-Jüdische Beiträge
zu Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur
in der ersten deutschen Demokratie


Deutsch-Jüdisches Leben in
Berlin, Kassel und Bad Nauheim


Weitgehende Integration:
Jüdische Deutsche und ihre Wahrnehmung der ´Ostjuden´


Politisches Denken jüdischer Deutscher:
links – mitte – rechts




Nationalsozialismus


Der nationalsozialistische Antisemitismus


Diskriminierung durch
systematische Demütigung, Ausgrenzung, Entrechtung


Jüdisches Leben in Deutschland
Existenzkampf unter dem Verfolgsdruck des Regimes -
Deutsch-Jüdische Selbsthilfe: Schulen, Verbände, Presse, Kulturbund -
Reaktion der Mehrheitsgesellschaft -
Deportation und Ermordung


Emigration
Von der Planung bis zur Ausreise –
Emigrationsziele in Europa und Übersee – Konferenz von Évian: keine Zuflucht, nirgendwo –
Jüdische Selbsthilfe: Hachschara-Bewegung –
Auswirkungen der Emigration jüdischer Deutscher auf die Wissenschaften und Künste in Deutschland
Neubeginn in der Fremde: Hilfsbereitschaft, Misstrauen, Ablehnung im Gastland –
Heimweh und Fremdsein –
Beruflicher Neubeginn: Erfolg und Scheitern



Rückkehr nach Deutschland
Ringen um Entschädigung -
Der Schoah entkommen und doch nicht willkommen -
Leben unter Tätern

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