Die anderen, denen ich Jude war und blieb, wollten mir damit zu erkennen geben, daß ich ihnen nicht genug tun konnte, als Jude nämlich; daß ich, als Jude, nicht fähig sei, ihr geheimes, ihr höheres Leben mitzuleben, ihre Seele aufzurühren, ihrer Art mich anzuschmiegen. Sie räumten mir die deutsche Farbe, die deutsche Prägung nicht ein.
Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, 1921.
Beide Frauen repräsentieren mit ihren Familien ein deutsch-jüdisches Großbürgertum, das – teils akademisch gebildet – in medizinischen und kaufmännischen Berufen reüssierte, ohne seinen Lebenssinn in ihnen zu erschöpfen. Es vertrat einen Bildungsanspruch, der jener Idee verpflichtet war, die in Teilen des Bürgertums fundamentale Bedeutung besaß: Der Mensch solle danach trachten, mehr zu sein als die Summe seiner sozialen Funktion und beruflichen Leistung. Er dürfe sich nicht im Streben nach materiellen Gütern erschöpfen, in der Berechnung des Soll und Haben. Statt dessen habe er sich für die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge ebenso zu interessieren wie für die Wissenschaft – und vor allem für die Kunst, von der eine veredelnde Kraft ausgehe, an der sich seine natürlichen Anlagen zum individuellen Charakter formen würden. Aus diesem Denken leitete sich die hohe Wertschätzung ab, die bürgerliche Kreise Kunst und Künstlern entgegenbrachten, ebenso die Bereitschaft, sie – sofern es die eigenen Mittel zuließen – großzügig und uneigennützig zu fördern. Das mehr aus dem Text heraus entwickeln, erst am Ende von Therese bringen.
Therese (Rosy) heiratete im hessischen Bad Nauheim, damals ein Kurort von internationalem Rang, einen jüdischen Arzt. Gemeinsam gelang es den Eheleuten, ein Sanatorium zur Behandlung von Herzkrankheiten aufzubauen und über drei Jahrzehnte erfolgreich zu führen. Das Haus lag nur wenige Gehminuten vom berühmten Kurpark der Stadt mit seinen Bädern und Salinen entfernt. Ihr Mann Friedrich verantwortete die medizinische Betreuung und Behandlung der Gäste; Therese war für den reibungslosen Ablauf des Klinikalltags verantwortlich. Dazu gehörte auch die Ausarbeitung des Diätplanes für jeden Patienten, der tägliche Einkauf der nötigen Nahrungsmittel und die Zubereitung der Speisen. Eine zeitgenössische jüdische Publikation beschrieb das Sanatorium als "nicht rituell", im Gegensatz zu anderen Häusern, in denen die religiösen Trink-und Speisevorschriften beachtet wurden.
Therese war eine praktische Persönlichkeit, die tatkräftig anpackte, wann immer der große Haushalt, dem sie vorstand, es erforderte. Gleichwohl waren ihr Mann und sie, entsprechend des oben umrissenen Lebens- und Kunstverständnisses, auch musisch interessiert. Dies führte zur Freundschaft mit Albert Heinrich Rausch, einem damals bekannten Schriftsteller, der im Haus des Ehepaares häufig zu Besuch weilte und dort einen Kreis vor allem junger Bewunderer um sich scharte, mit denen er musizierte und diskutierte.
Die Zeichnung, die einem Werbeprospekt entnommen ist,
zeigt das Sanatorium von Friedrich und Therese Mitte der 20er Jahre.
Alice (Alix) hingegen war ein schwärmerisch-empfindsamer Charakter, mit einer ausgeprägten Leidenschaft für die Künste, von denen sie sich stark berühren ließ. Zu Rausch, den sie im Hause der Schwester kennen lernte, entwickelte sich aus dieser Gestimmtheit die tiefere Freundschaft. Auch gab sie den Ausschlag für die Ehe mit Otto, der zwar ein privates Bankhaus betrieb, sich jedoch leidenschaftlich mit den Geisteswissenschaften, den Künsten und dem Sammeln von Büchern beschäftigte.
Das Ehepaar bildete im weltstädtischen Berlin der 20er Jahre einen gesellschaftlichen Mittelpunkt: die Wohnung am Kurfürstendamm, an dem sich so viele bedeutende deutsch-jüdische Geschäftsleute, Mediziner und Künstler niedergelassen hatten, galt als gelungenes Beispiel moderner Wohnraumgestaltung und verhalf einem jungen, begabten Architekten zum Durchbruch, der Steinway wurde als der beste private Flügel der Stadt gerühmt, die Feste als Ereignisse. Das Ehepaar war etablierten Künstlern freundschaftlich verbunden und förderte junge Talente, darunter den damals noch unbekannten Cellisten Gregor Piatigorsky (1903-1976), der in Berlin, nach der Flucht aus der Sowjetunion, einige Zeit ein mittelloses Dasein fristete. Ihre Töchter Lily (1912-1999) und Stephanie (1916-2013) besuchten die Privatschule der Adelheid Mommsen, Tochter des Historikers Theodor Mommsen.
Das politische Denken und Handeln jüdischer Deutscher wird hauptsächlich mit linken Parteien, Programmen und Positionen assoziiert. Diese einseitige Wahrnehmung resultierte aus den zahlreichen jüdischen Persönlichkeiten (z. B. Ferdinand Lassalle, Rosa Luxemburg, Ernst Toller, Erich Mühsam), die sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Entwicklungen in Deutschland maßgebliche Impulse gaben. Aus dem Blickfeld geriet dabei die Tatsache, dass jüdische Deutsche sich politisch auch weit rechts der Mitte beheimatet fühlen konnten und den dort gepflegten Denkfiguren anhingen: sei es der Geringschätzung der parlamentarisch-demokratischen Ordnung, sei es der Überschätzung Deutschlands, das – berufen durch Geschichte und Kultur – als maßgebliche europäische Ordnungsmacht zu wirken oder sogar ein europäisches Reich unter seiner Führung zu schaffen habe. Im kleinen Verband nationaldeutscher Juden
und dem nur eine Handvoll Mitglieder zählenden Deutschen Stoßtrupp
sammelten sich die deutsch-jüdischen Vertreter eines extremen nationalkonservativen Denkens. In solcher Ausprägung findet es sich bei Alice und ihrem Ehemann Otto nicht. Gleichwohl sind nationalkonservative Sympathien und Denkfiguren nicht zu übersehen, die sich in Kommentaren zum politischen Tagesgeschehen, in der Wertschätzung bestimmter literarischer Werke und in Freundschaften niederschlugen. Beide waren so deutsch wie jeder nicht-jüdische Nationalkonservative ihres weiten großbürgerlichen und adligen Freundes- und Bekanntenkreis.
Die Bibliothek von Otto (Aufnahme ca. 1925)
Die Geschichte der Gotthelftschen Großväter und Väter im 19. Jahrhundert hatte im Zeichen der schrittweisen Emanzipation und Gleichstellung gestanden, in deren Verlauf Deutsche jüdischen Glaubens de jure zu vollkommen und de facto in beträchtlichem Maße zu gleichberechtigten Mitgliedern in Gesellschaft und Staat wurden. In der Generation der Kinder, auch bei Alice und ihrer Familie, verstärkte sich jene Tendenz zu Säkularisierung, die bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatte: Der Glaube der Vorfahren verlor an Bedeutung, seine Inhalte an Verbindlichkeit, jüdische Festtage wurden nicht mehr begangen, statt ihrer christliche gefeiert. Noch Jahrzehnte später erinnerte die Tochter von Alice sich des alljährlichen großen Weihnachtsbaums in der Diele des Elternhauses, der Bescherung, an der auch die Dienstboten teilnahmen, des gemeinsamen Singens der Weihnachtslieder. Dieses Fort vom jüdischen Glauben entsprang nicht einer Wende hin zum Christentum; es war eine weitere, durch Verweltlichung möglich gewordene Assimilation an deutsche Tradition. Damit erreichten auch Alice und ihre Familie eine Integrationsstufe, auf der sie sich nicht mehr als Juden begriffen. Im Gegenteil: Juden, die das eigene Integrationsniveau nicht erreicht hatten, wurden als fremd, ja als anstößig empfunden, das von ihnen gelebte religiöse Erbe belächelt. Freilich war diese Verweltlichung nur ein Teil deutsch-jüdischer Lebenswirklichkeit. Ihr anderer Teil zeigt sich an jenen jüdischen Deutschen, die am Glauben der Vorfahren – sei es in dessen orthodoxer oder reformierter Form – festhielten. Beispielhaft hierfür ist der Breslauer Historiker und Lehrer
Willy Cohn (1888-1941), der neben Victor Klemperer (1881-1960) bedeutendste Chronist der Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Deutscher im Nationalsozialismus. In seinen Tagebüchern hält der von den Nazis wo ermorderte
Cohn fest, welche Kraft ihm in schwerster Zeit aus dem Glauben, der Teilnahme am Gottesdienst in der Synagoge und der Zwiesprache mit Gott erwuchs.
Im Gegensatz zu Alice, die mit Otto Deutschland kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verließ, harrte Therese mit Friedrich bis in die späten 30er Jahre aus. In ihrem Sanatorium durften sie – entsprechend den diskriminierenden Verordnungen des Regimes – nur noch jüdische Patienten behandeln. Wie jedem deutsch-jüdischen Arzt war Friedrich die Hilfe für christliche Kranke unter Strafe verboten. 1938 emigrierte Therese ins englische Exil nach London. Ihr folgte im März 1939 Friedrich, der nach den Novemberpogromen des Vorjahres seine Hoffnung auf Änderungen in der antisemitischen Politik des Regimes hatte aufgeben müssen. Im Exil verkehrten sich die bisherigen Rollen. Der lebenstüchtigen Therese und ihrem um etliche Jahre älterer Ehemann Friedrich, der in England seinem Beruf als Arzt nicht nachgehen durfte, gelang es in nur sehr bescheidenem Maße, sich eine neue Existenz aufzubauen. Als Friedrich emigrierte, zählte er 68 Jahre: ein Greis, der sich von den Nazis um die Früchte seines arbeitsreichen Lebens betrogen, der Heimat beraubt und in ein fremdes Land verstoßen sah. Aus dem in Bad Nauheim einst hoch angesehenen Mediziner, dem Vorsitzenden der lokalen Ärztevereinigung, Mitglied des Roten Kreuzes und des renommierten Taunusclubs, wurde ein namenloser Flüchtling, angewiesen auf die Hilfe seiner Kinder Adelheid und Gerhardt (Gert), die vor ihm nach England emigriert waren und dort in bescheidenem Rahmen hatten Fuß fassen können. Friedrich starb 1945 in London. Therese lebte dort bis zu ihrem Tod im Jahr 1965.
In Greenford, einem Arbeiterviertel im Westen von London, bewohnten Friedrich und Therese ein Stockwerk in der linken Hälfte dieses Doppelhauses (Foto von Chr. H. in 2014)
Die schwärmerisch-empfindsame Alice absolvierte in fortgeschrittenem Alter noch eine Ausbildung zur Kosmetikerin und die sich anschließende Tätigkeit sicherte ihr und ihrem Ehemann Otto, dem der berufliche Neubeginn im Exil nicht gelang, mehr als nur das Nötigste. Es ist bemerkenswert, wie diese durch ihr Herkommen privilegierte Frau, die in ihrem bisherigem Leben nie für ihren Unterhalt hatte sorgen müssen und ausschließlich schöngeistige Interessen pflegen konnte, sich in England unter gänzlich veränderten Bedingungen bewährte und mit zäher Entschlossenheit die mannigfachen Schwierigkeiten meisterte, vor die Emigranten sich im Exil gestellt sahen, das etlichen, auch Alice und Otto, nie Heimat wurde.
Alice bombenterror Stadtteil wurde zur besseren Lage, was wurde in der Umgebung zerstört, kein Leben in Sicherheit im Exil. Flucht in die U-Bahnen. Begriff Opfer hinterfragen, differenzieren. Wo? Alice war Opfer und Nicht-Opfer zugleich, wehrte sich in England. Ebenso Friedrich: Akt des Widerstandes: Er schreibt sein dt-engl. Wörterbuch, in der Hoffnung, dass es der Völkerverständigung dienen möge, eines Tages, den er vielleicht nicht mehr erleben würde.
Alices Briefe nach Deutschland, an die wenigen Freunde, die ihr nach der Emigration verbunden blieben, sprechen von ihrer Entschlossenheit allen Widrigkeiten zu trotzen. Doch benennen sie auch die dunklen Stunden, in denen Alice von der Trauer über die Verluste überwältigt wurde, die sie durch den Gang ins Exil erlitten hatte: materielle und menschliche. Letztere wogen am schwersten.
Zu den wenigen Freunden, die Alice im sogenannten ´neuen´ Deutschland die Treue hielten, gehörte ein preußischer Gutsbesitzer, der sie auf seinem Schloss willkommen hieß, unbesehen der Gefahr, in der diese Gastfreundschaft ihn hätte bringen können. Unter den vielen anderen, die sich ihr entzogen, befand sich ihr einst engster Vertrauter Albert Heinrich Rausch, mit dem sie bis zum Jahre 1933 eine fast 30-jährige Freundschaft verbunden hatte. Der Schriftsteller hatte sich, nach anfänglichem Zögern, mit den Nationalsozialisten aus mancherlei Gründen arrangiert. Zu diesen zählte der Glaube, dass die Nationalsozialisten mit ihrer antisemitischen und antimodernistischen Kulturpolitik bestimmten, angeblich von deutsch-jüdischen Künstlern und Intellektuellen zu verantwortenden Entwicklungen entgegenwirkten, unter denen seit 1918 die deutsche Kultur leide. Diese Ansicht war in Deutschlands gebildeten Kreisen weit verbreitet. Hier bild von Haus, betonen, dass es damals noch nicht in einem hippenstadtteil war.
An Rausch zeigt sich, wie komplex und widersprüchlich Vergangenheit ist: Zu den wichtigsten Persönlichkeiten in seinem Leben zählten jüdische Deutsche (u. a. die Schriftsteller Alfred Bock, Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl), zu seinen besten Arbeiten die Geschichten von drei guten Juden, erschienen 1930 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung. Jedoch: Die teils jahrzehntelangen Freund- und Bekanntschaften, die Rausch zu Juden pflegte, hinderten ihn nicht daran, einem partiellen Antisemitismus vehement anzuhängen, der sich auf eine kleine Gruppe im Kulturbetrieb engagierter Juden bezog. Dieser nur partielle Antisemitismus war gleichwohl für Rausch ein wesentlicher Grund, den Nationalsozialismus lange Zeit zumindest in Teilen zu affirmieren und seine Schand- und Gräueltaten geflissentlich zu übersehen, sich von den jüdischen Freunden zu distanzieren, als es ihm opportun erschien. Noch 1941 lobte Rausch den "gesundgescheiten Göbbels", der die jüdische Vorherrschaft gebrochen habe. Sein Verhalten werden diese Seiten als beispielhaft in der deutschen Geschichte darstellen und zeigen, dass der Antisemitismus kein klassenspezifisches Phänomen war, er viele Gesichter hatte und aus den unterschiedlichsten Quellen gespeist wurde.
An die menschlichen Verluste wurde Alice bei jedem ihrer Besuche in Deutschland erinnert, wohin sie bis 1938 mehrmals zurückkehrte, um ihre Mutter zu besuchen, die hochbetagt in Kassel lebte. Emma Gotthelft war die letzte aus jener Generation, die den Namen Gotthelft zu höchstem Ansehen gebracht hatte - ein Ansehen, das nun – wie das Ansehen aller jüdischer Deutscher – von den braunen Machthabern mit immer neuen perfiden Maßnahmen und Schmähungen verunglimpft wurde. Ihr Ehemann Wilhelm war noch vor Beginn der nationalsozialistischen Diktatur verstorben, ebenso ihr Schwager Theodor und dessen Frau Alice. Richard Gotthelft und seine Frau indes hatten das Unglück, die Machtübernahme durch die Nazis noch erleben zu müssen. Im Juli 1933 nahmen beide sich das Leben, verzweifelt über den Sturz Deutschlands in die Barbarei und die Demütigungen, die jüdischen Deutschen zuteil wurden. Hier jetzt das Verhau in Kassel, nicht oben bei Emma. Nachricht ging an die Gotthelft in allen Orten Deutschlands und der Welt, durch private Korrespondenz, und Medien. Darüber war auch in der Times zu lesen.
In den 60er Jahre kehrte Alice mit ihrem Mann Otto, der in deutscher Erde bestattet sein wollte, in das Land zurück, das beiden Heimat geblieben war, trotz der erlittenen Vertreibung und des mühevollen Ringens um eine finanzielle Entschädigung für das Unrecht, das ihnen zugefügt worden war. 1973 starb Otto 87-jährig in München, 1977 folgte ihm Alice im Alter von 92 Jahren.